
Ich bin in meiner Familie die erste Generation, die ohne Krieg aufgewachsen ist. Viele Errungenschaften der EU spüre ich täglich. Die Freiheit, in einem anderen EU-Land leben und arbeiten zu dürfen, den Euro, die abgeschafften Roamingebühren, Standards bei Produkten und vieles mehr. Ich bin dankbar, Unionsbürgerin zu sein, und hoffe, dass auch noch zünftige Generationen die vielen Errungenschaften der EU genießen können. Doch in letzter Zeit bereitet mir die Tendenz der EU zu ihrer Desintegration zunehmend Sorge. Die letzte Woche war keine gute für die EU. Am Montag tagten die Außenminister in Brüssel. Bei drei von vier Tagesordnungspunkten gelang es den Mitgliedsstaaten nicht, mit einer Stimme zu sprechen. In diesem Politikbereich gilt nämlich das Einstimmigkeitsprinzip.
Selbstverständlich hat in der EU jedes Mitgliedsland das Recht, seine Position und seine Bedenken einzubringen und zu verhandeln. Aber gut wäre es, wenn man die gemeinsamen Ziele und den europäischen Mehrwert dabei noch im Auge behielte und die Konsensfähigkeit nicht völlig verliert. Ich kann daher den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker
gut verstehen, wenn er bereits mehrmals einforderte, die EU müsse „weltpolitikfähig“ sein. Wie soll die EU als Einheit in einer globalisierten Welt bestehen? Und dann auch noch der Streit über die geplante deutsche Pkw-Maut. Der Generalanwalt empfiehlt dem Europäischen Gerichtshof, die Klage der österreichischen Regierung abzuweisen. Er sieht es als legitim an, dass Deutschland bei allen Nutzern der deutschen Autobahnen, egal ob Inländer oder Ausländer, eine zweckgebundene
Infrastrukturabgabe in Form einer Vignette einheben darf. Und dass Deutschland den deutschen Autofahrern bei der nationalen Kraftfahrzeugsteuer Steuerentlastungen geben darf, weil hier nur die deutschen Fahrzeughalter steuerpflichtig sind. Andere EU-Bürger unterliegen eigenen Steuergesetzen.
Ich finde es bedauerlich, dass eine aus Populismus geborene Ankündigung im deutschen Bundestagswahlkampf, die Einführung einer „Ausländermaut“, nun die Gemüter erhitzt und zu zwischenstaatlichen Streitereien führt. Sollte der EuGH den Empfehlungen folgen, wird das nur jene befeuern, die schon über Revanche-Maßnahmen durch eigene Steuerpraktiken
und Rückvergütungen für die „eigenen“ Staatsbürger nachdenken. Solche Maßnahmen würden dann am laufenden Band bei
jeder neu eingeführten „Inländerbevorzugung“ weitere EuGH-Verfahren provozieren und letztlich das ganze Integrationsprojekt der Europäischen Union ins Wanken bringen. Ich kann es nicht genug betonen, nationalistische „Mia-san-mir“-Mentalitäten sind Gift für die Europäische Union, die sie zerbrechen lassen können.